Donnerstag, 21. Juni 2012

Begegnungen

Im Auge des Pumas
(Eine Geschichte aus Kanada)

Boston Bar ist ein kleines Städtchen am Trans Canada Highway, etwa in der Mitte zwischen Vancouver und Kamloops, in der Provinz British Columbia, Kanada.
Auch der berühmte TCH, wie die Kanadier die Straße oft abgekürzt nennen, konnte den stetigen Niedergang der Siedlung nicht aufhalten. Möglicherweise hat er den Verfall von Boston Bar sogar mitverursacht. Denn der Highway Nr. 1 hat zumindest in dieser Gegend Kanadas selber stark an Bedeutung verloren, seit der Coquihalla Highway gebaut wurde. Dieser zieht sich durch eine der schönsten Landschaften der Provinz und verbindet den Hope-Princeton und Fraser Canyon miteinander. Die Verbindung zwischen Hope und Kamloops wird damit kürzer und schneller.

Die große Sägemühle, in der einst viele Einwohner von Boston Bar ihr Brot verdienten, hat schon lange dicht gemacht. Bringt man die Muße auf, die breite Hauptstraße entlang zu bummeln, kann man viele stumme Zeugen ausmachen, die von einer anderen Zeit erzählen, einer prosperierenden Zeit, in der hier reges Treiben herrschte. Das schöne, schmiedeeiserne Gartentor zum Beispiel. Es ist halb aus seiner Verankerung gerissen und gibt den Weg auf einen kleinen Gemischtwarenladen frei, in dem es allerdings nichts mehr zu kaufen gibt. Oder das bunte, nur ein wenig angerostete Werbeschild, mit dem man auf einem europäischen Antiquitätenmarkt sicher noch einen guten Preis erzielen könnte.

Auch die vielen verlassenen Häuser sind ein Zeichen dafür, dass es mit der kleinen Ansiedlung bergab geht. Heute scheinen sich ihre Dächer noch tiefer zu ducken als sonst. Über dem Tal hängen schwere Gewitterwolken, die den gegenüberliegenden Berghang in ein fahles Licht tauchen.

Allan Sherly scheint diese bedrückende Stimmung nichts auszumachen. Fröhlich pfeifend schleppt der elfjährige Junge Brennholz aus dem Schuppen, wo es seit dem letzten Herbst trocken lagert, ins Haus. Neben ihm eine Golden Retriever Hündin, die jeden Gang mitmacht. Sie tänzelt neben dem Jungen her, immer in der Hoffnung, dass dieser sich irgendwie mit ihr beschäftigt. Aber Allan lässt sich nicht ablenken.

Aus dem Kamin steigen schon die ersten Rauchwolken. Mom hat soeben Feuer gemacht, um das Abendessen vorzubereiten. Nur widerstrebend hat sich Allan von seinem Computer gelöst, um die Bitte seiner Mutter zu erfüllen und noch etwas Brennholz zu holen. Ganz im Gegensatz zu Angel, die sofort aufgesprungen war und freudig mit dem Schwanz wedelte. Wenn es mit Allan nach draußen ging, war das für die Hündin immer ein Anlass zur Freude.

So, noch eine Ladung Holz, denkt Allan, dann geht es zurück an den Computer. Hoffentlich wartet Ben auf ihn. Sie spielen oft online zusammen. Ausgerechnet, wo er endlich einmal eine Gewinnsträhne hatte, musste Mom ihn stören, weil kein Holz mehr im Haus war. Mit diesen Gedanken macht er sich ein letztes Mal auf den Weg zum Schuppen in der hinteren Hälfte des Gartens. Diesmal ist Angel nirgendwo zu sehen. Aber das fällt ihm kaum auf.

Zielstrebig läuft er auf den Schuppen zu. Das alte, baufällige Gebäudes ist nach Süden hin offen, weil der Regen ganz selten aus dieser Himmelsrichtung kommt. Dort ist auch das Holz sauber aufgeschichtet. Allan biegt um die Ecke und - schaut direkt in die Augen eines Pumas!

Das Tier steht in geduckter Haltung etwa drei Meter vor ihm. Die Pupillen zu zwei schmalen Balken zusammen gezogen, die Ohren angelegt, setzt die Raubkatze fauchend zum Sprung an.

Allan ist erst elf Jahre alt, aber er ist in der Wildnis groß geworden. Er weiß was ein angreifender Puma, oder Cougar, wie ihn die Kanadier auch nennen, bedeutet. Er hat gelernt, was er tun muss: Sich ganz, ganz groß machen und brüllen, was das Zeug hält. „Fight back!“, hat sein Vater ihm immer eingeschärft. „Don't run away!“

Die ersten vier, fünf Sekunden bleibt Allan durchaus cool. Er stellt sich auf die Zehnspitzen, macht die Arme ganz breit und stößt einen gewaltigen Schrei aus. Das Raubtier scheint leicht irritiert und zögert mit dem Angriff.

Diesen Augenblick nutzt Allan, um sich hinter den Schuppen um die Ecke zu drücken. Doch dazu muss er sich leicht umdrehen. Und das ist verkehrt. Er weiß es in dem Moment, da er die Katze im Rücken spürt.

Dann geht alles sehr schnell. Den Jungen erfasst Panik. Er rennt los in Richtung Haus. Aber da ist das große Tier schon hinter ihm und verbeißt sich in seinen linken Unterschenkel.

Wieder schreit Allan aus Leibeskräften. Diesmal aus Angst, die ihn jetzt mit Wucht überfällt. Der Junge versucht das Tier an den Hinterbeinen zu fassen. Aber das misslingt. Sein Brüllen ist kein Brüllen mehr. Allan weint und schluchzt, weil der Schmerz so stark ist.

Er registriert noch wie seine Mutter in der Tür erscheint, bevor er stolpert und hinfällt. Und im Fallen sieht er Angel angerast kommen. Wie von Sinnen stürzt sich die Hündin auf die Katze. Der Puma lässt Allans Bein los und wendet sich dem Angreifer zu. Das ist ein ungleicher Kampf. Die Hündin lässt den linken Hinterlauf des Pumas los und setzt ein paar Meter zurück.

Allans Bein ist frei. Schnell rappelt er sich auf. Er kann laufen. Er rennt. Er rennt Richtung rettendes Haus. Dort hängt seine Mutter schon am Telefon und wählt die 911, die Nummer für Notfälle. Sie hat gesehen, dass Allan frei ist und hat auf dem Absatz kehrt gemacht, um die RCMP anzurufen.

Eine Highway Patrouille war gerade auf der Höhe von Boston Bar. Es dauerte nur Minuten, bis der Sherif da ist. Inzwischen hat sich der Kampf der beiden Tiere unter die hintere Veranda des Hauses verlagert.

Der Officer ist ein bedächtiger Mann. Es dauert noch ein paar lange Sekunden, bis er eine geeignete Position findet. Dann fällt ein Schuss. Der Puma ist sofort tot.

Inzwischen ist auch der Krankenwagen eingetroffen. Allans Bein wird fachmännisch verarztet. Die Wunde sieht schlimmer aus als sie ist. Größere Blutgefäße wurden nicht getroffen. Auch der Knochen scheint nicht verletzt zu sein.

Der Arzt setzt noch zwei Spritzen. Dann stellt er fest, dass es mit dieser ambulanten Behandlung vorerst getan ist. Wegen der großen Entfernung zum Krankenhaus ist die Mutter froh über die Aussage. Allan selbst will auf gar keinen Fall in die Klinik. Dafür muss er dem Arzt versprechen, bis auf weiteres schön brav im Bett liegen zu bleiben.

Angel wird vom Doktor auch gleich noch mitverarztet. Sie blutet aus einigen Bisswunden, scheint aber ansonsten keine ernsthaften Verletzungen zu haben.

Die Tür zum Kinderzimmer wird von außen leise geschlossen. Die beiden sind allein im Raum. Allan nimmt Angels Kopf fest in seine Hände. „Du hast mir das Leben gerettet“, flüstert der Junge in ihr Ohr. Die Hündin sitzt ganz still. Nur der buschige Schweif wischt langsam über dem Boden hin und her.

Tief vergräbt der Junge sein Gesicht in dem dichten, goldgelben Fell des Tieres, das an einigen Stellen immer noch leicht rot gefärbt ist. Schließlich braucht Mom nicht zu sehen, dass er schon wieder weinen muss.

Jorge D.R.

( Unter dem obigen Titel werde ich euch auch in Zukunft in loser Folge ein wenig über Begegnungen aller Art berichten. Ich will euch von besonderen Ereignissen in der Natur erzählen und von Menschen, auf die ich in der Literatur, der Musik, der Malerei, der Fotografie, beim Reisen, in den Weiten des Netzes oder im wirklichen Leben gestoßen bin. )

6 Kommentare:

  1. Eine wundervolle Geschichte, du Lieber...diese bedingungslose Liebe der Hündin zu ihrem wohl besten Freund, lächel...der Höhepunkt der Spannung.
    Gern werde ich deinen *Begegnungen* folgen, die untermalt sind von herrlichen Bildern, die sich im Kopfkino so richtig auszubreiten wissen.

    Danke fürs Miterleben dürfen!

    von Herzen,
    Rachel

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  2. eine ganz bezaubernde Geschichte, gerne gelesen und miterlebt, ich freu mich über deine Kreativität

    ich wünsch dir nen schönen Wochenausklang

    alles liebe vom zur zeit weniger kreativen :-( Sterntalerchen

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  3. ..schluck.. und ich hab schon die Hosen voll, wenn eine Spinne um die Ecke kriecht...

    Spannend geschrieben - fein!

    ..grüßt dich Monika

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  4. danke, lieber Jorge :)

    freue mich schon :)

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  5. Ein großartige, tief berührende und megaspannende Geschichte! Ich hatte sofort Sorge, dass die Hündin sterben muss ... ich mag am liebsten Happy-Ends und dieses ist besonders schön! Du bist ein wudnervoller Geschichtenerzähler und ich werde mir um keinen Preis der Welt die folgenden aus deiner Feder entgehen lassen.

    ganz liebe und total begeisterte Grüße
    isabella

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    1. Lieber Jorge,
      weißt du, dass diese spannungsgeladene Geschichte mich ganz gefangen nahm und dass ich am Ende Tränen in den Augen hatte und schlucken musste? Du schreibst wunderschön! Danke.
      Gerti

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